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 medardus


Der Junge Medardus (1923)


 

REGIE: Michael Kertész BUCH: Ladislaus Vajda, Arthur Schnitzler KAMERA: Gustav Ucicky, Eduard v. Borsody BAUTEN: Julius v. Borsody, Artur Berger DARSTELLER: Michael Varkonyi, Anny Hornik, Maria Hegyesi, Egon v. Jordan, Mary Stone, Franz Glawatsch, Julius Szöreghy, Josef König, Ludwig Rethey, Agnes d'Ester, Carl Lamac, Ferdinand Onno, Mihail Xantho, Heinrich Schnitzler, Eugen Neufeld PRODUKTION: Sascha-Filmindustrie AG, Wien FORMAT: 16 mm, s/w, deutsche Zwischentitel LÄNGE: 102 Minuten
Klavier: Gerhard Gruber 
Seitdem auch die vornehmeren Kreise der Kunst und Literatur geruht haben, zu bemerken (es ist gar nicht lange her), daß in Wien Filme gemacht werden, seitdem hören wir oft den Tadel, daß unsere Filmkunst nicht genügend nationale Eigenart besitze. Ich weiß nicht, ob diese Herren so viel vom Film verstehen, um eine Eigenart überhaupt richtig beurteilen zu können, aber sie sollen sich doch, versuchsweise den JUNGEN MEDARDUS ansehen.
Denn das ist ein Wiener Film. Nicht nur darum, weil er eine Wiener Historie nach dem Werke eines Wiener Schriftstellers darstellt. Denn nicht das Thema gibt einer Kunst seinen nationalen Charakter. Ich denke, daß Shakespeares Coriolan und Julius Cäsar ihren englischen, Racines antike Tragödien ihren französischen und auch Iphigenie und Torquato Tasso ihren deutschen Charakter nicht verleugnen können. Nicht auf den Stoff, meine Herren, sondern auf den Stil kommt es an. In diesem Kertesz-Film können sie nun studieren, was spezifischer österreichischer Regiestil ist.
Wir können leider in dieser Kritik nur kurz darauf hinweisen. Es ist vor allem dieses wunderbare Romantisch-Pittoreske der Bilder. Ein Tumult von Schatten und Lichtern in der Tiefenperspektive (meist premierplan dunkel und sekundärplan hell), der von dem unharten, samtenen Pathos des Wiener Spätbarocks herzukommen scheint. Der gute amerikanische Aufnahmestil besteht in einer präzisen, naturalistischen Plastik, der gute französische Stil in einer besonderen dramatischen Deutlichkeit der Einstellung.
Der deutsche Regiestil sucht schon malerische Effekte, aber meist, indem er das Thema, das Motiv drapiert und herrichtet, was dann manchmal bis zum Expressionismus eines CALIGARI-Films gesteigert wird. Der Wiener Regisseur stilisiert sein Motiv nur mit Beleuchtung, malt nur mit dem Apparat. Auch Kertesz tut nichts weiter. Aber seine Bilder sind eine bewegte Bildergalerie: Jede Momentaufnahme, in sich vollendet, schreit nach einem Rahmen. Napoleons Kriegsrat in Schönbrunn, Marschall Lannes mit seinem Generalstab vor der sinkenden Sonne, Helene von Valois in ihrem Zimmer, das nächtliche Duell beim Fackelschein und andere, und andere. Sie wirken alle wie schöne Reproduktionen von unbekannten Meisterwerken der historischen Malerei. Kertesz erweist sich in diesem Film überdies als der große Meister der Massenszenen. Wir haben bei Lubitsch und bei Griffith größere Massen gesehen. Aber noch nie Massen, die so, aus lauter für-sich lebendigen und sinnvollen Teilszenen zusammengesetzt worden sind. Nicht nur das Ganze wirkt. Jede Ecke ist "ausgearbeitet", hat Physiognomie. (Die Leichen, die ins Wasser fallen!) Dieser Film enthält wahrscheinlich das größte und schönste Kriegsgemälde, das bisher die Kinematographie hergestellt hat. Leider erdrückt dieser großartig-wuchtige historische Rahmen das eigentliche Drama des jungen Medardus, obwohl dieses an und für sich überaus filmfähig und dankbar wäre. Daß kein Raum für ein "Ausspielen" gelassen wurde, ist in diesem Fall von besonderem Schaden, weil die Geschichte, die von seelischen Motiven bewegt wird, dadurch oft unverständlich wird. Was geschah eigentlich in der ersten Liebesnacht des Medardus? Warum will Prinzessin Helene die Hunde auf ihn hetzen? Liebt sie ihn? Oder gebraucht sie ihn bloß als Werkzeug? Wir kennen uns bis zum Schluß nicht aus.
Freilich gibt es einen besonderen Zauber des "Unbestimmten", der zum Wesen der Schnitzlerschen Poesie gehört. Allerdings könnte dieses unfaßbare und doch so deutliche "Unbestimmte" in der Kunst der reinen Mimik (wie auch in der Musik) besser ausgedrückt werden, als durch die immer zu scharf umrissenen Begriffe der Worte. Dann dürfte aber überhaupt kein Titel gebraucht werden, und dieses Weniger wäre mehr. Helenes Psychologie ist aber nicht unbestimmt, sondern eher verworren. Das Drehbuch, scheint mir, hat nicht richtig gekürzt. Denn wie Helenes Psychologie ungenügend, so ist die Psychologie des Medardus übermotiviert. Der Mord am Vater und der an dem Onkel und das Vaterland und noch die Eifersucht. Und zuletzt wüßten wir es doch nicht, daß er Napoleon umbringen wollte. Wir erfahren es erst in der Zelle von ihm, warum er im Schönbrunner Park spazierenging. Das ist ein Fehler, der aber mit einem Titel behoben werden kann. Überhaupt ist an manchen Stellen die Zeitperspektive falsch. (Wie das Gemälde eine Perspektive des Raumes vortäuscht, hat der Film eine Perspektive der Zeit vorzutäuschen, was zu den wesentlichsten und schwierigsten Problemen der Filmkunst gehört.)
Gleich nach der ersten Liebesnacht verirren wir uns in den Tagen. Am auffallendsten ist aber, daß Napoleon beim Konzert von der möglichen Begnadigung des Marquis spricht und wir erst viel später seine Verhaftung sehen. Das scheint einfach ein Irrtum im Schneiden gewesen zu sein und ist auch leicht zu beheben. Noch auf einen großen, aber eigentlich ganz kurzen (nämlich bloß zwei, drei Meter langen) Fehler, der wegzuschneiden wäre, möchte ich aufmerksam machen. Der Marschall Lannes bewegt sich sichtbar nach seinem Tode noch unter der Fahne. Das sollte er nicht tun. Alldies sind aber Kleinigkeiten im Verhältnis zur überwältigenden Bildwirkung des Ganzen. Daß es Kertesz vor allem auf diese Bildwirkung ankam, beweist ja, daß nach dem Ende des Medardus und der eigentlichen dramatischen Handlung seine großen Massenvisionen fortlaufen. Der Film ist auch restlos gut gespielt. Die Typen sind mit einer amerikanischen Sorgfalt ausgesucht. Herr Varkonyi hat jene heiße und männliche Lyrik, die höchste Empfindsamkeit ohne Sentimentalität ausdrücken kann. Frau Agnes d'Ester ist eine Anfangende, aber keine "Anfängerin". Ihr Gebärdenschatz ist nicht groß, aber immer echt. Man hat die Empfindung, daß sie sich noch nicht ganz loslassen konnte. Aber einen Ausdruck hat sie, den ihr die größten Kolleginnen nicht nachmachen. Es ist eine unheimliche Mischung von weißglühendem Haß, Verachtung, Ekel und Wut. Ein Ausdruck, für den die deutsche Sprache keinen Ausdruck hat, denn "Hochmut" ist zu gutmütig und zahm. "Orgeuil" würde es der Franzose nennen. Sie wird eine sehr gute Filmschauspielerin werden.
Béla Balázs, DER JUNGE MEDARDUS, in: Der Tag, 9. Oktober 1923

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